Notierungen zur Zeichnung / 2008-2009

Wann hat es angefangen? Vielleicht mit einem Kind, das im feuchten Sand irgendeines Ufers der Frühzeit mit seinem Zeigefinger spielerisch eine Linie in den Sand setzt. Wenig später Cromagnonmaler, die Figuren, Szenen, Beutewünsche, die eigene Hand – frühes Druckverfahren – mit Ruß & rotem Ocker bewusst auf Höhlenwände bringen, die  Schlangentraumgeist ... Wassermume ... Tigerahn ... Onkel Aligator Tukwalele ... heraufbeschwören, indem sie diese zeichnen. Zeichnung als Ritus bis hin zur Moderne, bis in die Graffitis der young urban tribals, die Zeichen, Text-Cuts, Comicmännchen & Schablonenposter, politische Statements & ästhetische Spielereien auf die Höhlenwände öffenlichen Betons sprühen, schnell, subversiv, vergänglich.

Zu jeder Zeit inszeniert irgendjemand irgendwo auf diesem Planeten dieses Urspiel, bewusst oder unbewusst, als Skizze oder geplantes Projekt. Und dehnt dabei für die Dauer dieses Tuns die eigene Dimension in Räume aus, in denen auch der Kosmos seinen Ton knetet.

Vielleicht der Impuls zum Notieren einer Idee, zu kritzelndem Nachdenken, das Skizzieren eines Unbehagens ...  Aufnahme eines Dialoges mit den eigenen Dämonen ... Der Wunsch nach dem Protokoll einer aufkeimenden Sehnsucht ... Verletzte Kinder, die in therapeutischem Kontext versuchen ihr Trauma einzukreisen ... Oder schlicht Lust am Tun, vitale Freude eine leere Fläche zu bespielen & die erregte Neugier danach auszukosten – was denn das Spiel so hergegeben hat.

Vielleicht kommt der Anschub zeichnen zu wollen als Reaktion auf ein untergründig empfangenes, dem Bewußtsein des Zeichners entgangenes Ereignis in seinem Umfeld oder irgendwo auf diesem Planeten oder Lichtjahre hinter dem Mond. Oder mit dem Auftauchen einer Erinnerung, ohne dass auszumachen wäre warum ausgerechnet jetzt & wieso & von was diese Erinnerung aktiviert wurde. Ein Geruch, ein Gesicht auf der Straße, Nachwehen eines Traums ... Niemand kennt, nur manche ahnen die Inszenierungsdichte der Götterclique. Der Zeichner mit seiner Zeichnung als Synapse zwischen Welten & weltweiten Ereignissen. 

Am Anfang ein kleiner Impuls, eine sich behutsam vortastende Regung, ein schüchterner, sich noch zierender Gedanke, das flüchtige Berühren einer Möglichkeit, wie ein feines Gas aufsteigend aus den Schotterbänken abgelegter Erinnerung, abgesunkener Erfahrungen oder aktueller, sich verdichtender Beobachtungen – auch vorausschauender Ahnungen, in diesen Dimensionen ist alles ineinandergreifende Struktur. Das keimt, brütet, rekelt sich im Unbewußten & wird dann zeichenhaft komprimieren oder pilzartig austreiben – oft unrasierte Tage später. Und wenn das aufgesteigende Gas anfängt eine gewisse Trance zu aktivieren, Reaktion provoziert, inszeniert sich jenes spontane Spiel aus dem Bauch, aus der Lust heraus & der erste Schritt ‒ ohne Ziel, nur Weg.

Häufig taucht am Anfang (bei Erwachsenen) ein gewisses Zögern auf. Zögern vor der Verletzung der leeren Fläche & dem handelnden Eintritt in das Universum unbestimmter Ereignisse. Zögern vor dem Wissen, dass der erste Schritt Konsequenzen fordert, Antwort will. 

Erstmal ausweichen, aufräumen, neue Blätter grundieren, abwaschen, einkaufen, Kaffee aufsetzen – und sich Zeit lassen ihn zu trinken, wohlmöglich mit grübelndem Blick auf die Provokation dieser leeren Fläche. Und wenn sich dann hintergründige Unruhe breit macht, wenn das lästig wird, sich ballt, wird das Zögern beiseite geschoben von dieser trotzigen, gleichsam verwegenen Geste, die den Stift aufsetzt & derart den ersten Akt inszeniert, einen Punkt, eine Linie in die Fläche bringt, satt frech oder dünn zögerlich oder als unkontrolliert abtropfender Tintenfleck ...

Z a n g ! Der erste Schritt zeigt sich dreist & fordert: Jetzt wieder du! 

Umarmung der Augenblicke & deren Aneinanderreihen zur Zeichnung. Und was immer ein Werkzeug aus der Fläche befreit bzw. mit ihr zusammen realisiert, ist Aufzeichnung, Diagramm von Energiedialogen.

Sich in eine gewisse Archaik des Sehens treiben lassen. Zufälle aufgreifen, zulassen, einbinden. Der Linie Raum geben, für sich Neuland, neues Volumen zu erschließen, sich einzubringen, zu artikulieren.

Vielleicht auch dass ein Zeichner beobachten will, wie sich Linien zu anderen Linien verhalten wenn beispielsweise im digitalen Raum lichtschnelle Vorgänge sie vernetzen oder wenn sie, in einer gewissen Transparenz übereinander gebracht, neue Struktur, neue Zeichnung bilden. Wenn digitale Zufälle ihr Spiel machen & den Ball in unvorhersehbare ästhetische Räume treiben. Was dieses Zusammenspiel formuliert, wenn man es dem Abenteuer freien Spiels & den Launen der Wünsche überlässt oder auch dem was der Zeichner sich vorstellt.

Oder am Anfang steht findendes Sehen, gefundene Zeichnung – nur das Auge zeichnet, genießt Zeichnung als Fund, als Entdeckung: Zweig- & Blattschatten auf dem glatten Grau einer Buchenhaut ... das Filigran gleißender Schienenstränge im Gegenlicht hinter dem Bahnhof, darüber das grafische Netz der Oberleitungen ... Bruchlinien im Eis ... Fresslinien von Borkenkäfern ... Gesicht im chaotischen Muster einer Gusssteinplatte ... Möglicherweise visuelle Impulse, die sich ablegen & dann irgendwann als Idee oder Spur wieder auftauchen.

Zeichnung als Teil einer Planung sowieso. Der Zeichner überdenkt eine Strategie, will Möglichkeiten anskizzieren – das ist aber dann schon ein ziemliches Stück weit hinter dem Anfang der Anfänge, das tummelt sich bereits in Räumen künstlerischer Absichten & ästhetischen Kalküls.

 

Qualen & Freuden des Scouts unterwegs im Niemandsland der Anfänge & jener Wildnis, die die Wahrnehmung in Bewegung bringt & überlebensgenaue Beobachtung fordert. 

Und hinter den Anfängen dann das Abenteuer im Unbekannten solange ausdehnen, bis etwas aus den Kulissen meint: Genug! Halt! Die Erregungen legen sich, das Seelchen öffnet den Tabernakelschrank & hebt den Kelch – Vergeblich klopft  wer ohne Wein ist an der Musen Pforte ( Aristoteles) – hebt den Kelch für den Kosmos, für die Erde, für die immer anwesende Götterclique, für die Nacht, für die Schlafenden im Haus, für das erste Licht eines heraufdämmernden Tages, für die frühe Amsel.

Wenn Bilder ersteinmal angefangen haben, mit einem zu reden, wird Uhrzeit zu ZeitZeit. Und wenn das Gespräch dann irgendwann (meist vorläufig) zu Ende ist, ist in jenem Kreis aus Feuer & Eis immer Sommer.

... Wasserkessel pfeift ...

 

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Mit jedem hingesetzten Punkt, jeder gezogenen Linie, jedem herunter tropfenden Zufall, scheinbar noch so unbedeutend, verändert sich immer die ganze Fläche, immer das Ganze. Ein einziger Punkt in eine leere Fläche gesetzt, macht das ja deutlich: die Fläche verliert alle Unschuld. Und das gilt auch später, wenn das Blatt mehr Punkte, mehr Linien hat, komplexer strukturiert ist. Es ist dann nicht so augenscheinlich, die Struktur hat dennoch einen Punkt, eine Linie, einen Fleck mehr, ist folglich verändert. Eine Sache des Blickwinkels. 

Und derjenige, der Punkt oder Linie einbringt, Zufälle zulässt, geht mit seinem Tun diesen verändernden Weg durch die sozialen Räume dieses Ganzen & durch ästhetische Möglichkeiten mit, bis ans Ende des Ringens. Oft nur ein vorläufiges Ende, die Zeichnung meldet sich möglicherweise später wieder, hat Fragen beantwortet, stellt jetzt neue. Das heißt, der Zeichner hat die längst Vorgepreschte eingeholt, er selbst neue Position bezogen.

 

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Trancezeichnungen vertreten eine Form von Nicht-Kontrolle. Blind ( überwiegend ) in der Trance realisiert, demonstrieren sie Vorschläge das Sehen anders zu sehen, entsprechende Fragen zu stellen. Was immer man mit geöffneten Augen zeichnet, wird rational & über eingeprägte, konventionell ausgerichtete ästhetische Kriterien kontrolliert, ob man das will oder nicht. Kontrolle beherrscht diese Zeit & die Medien mit entsprechenden Zwängen & Hysterien. Im Bereich der Zeichnung gab es über Millennien nur kontrollierte Zeichnung, entsprechende Konditionierungen & Progressionen. Das hat lange das Sehen vorangebracht, aber nun scheint es an der Zeit, den Raum hinter den Kontrollen (wieder) einzubinden, das visuelle Potenzial prälogischer, vorbewußter, emotionaler Bildwerte, postsurreal & nichtillustrativ (nicht auf dem Dali-Kitsch-Level) auf den Tisch zu bringen.   

Since the world drives to a delirious state of mind, we must drive to a delirious point of view 

Wolfgang Max Faust in ,Dies alles gibt es also‘ 

Im fachlichen Kontext ist Trancezeichnung eine Fortführung anderer Vorstöße innerhalb des letzten Jahrhunderts & von einigen Leuten entwickelter Vorstellungen & Ziele: Aufzeichnung innerer Bilder. Die ecriture automatique einiger Surrealisten ... bestimmte Zeichnungen André Massons ... l'art-brut .... Henry Michauxs Mescalinprotokolle ... Kunst der Schizophrenen ... Kinderzeichnungen ... 

Formen des Zeichnens, die in direkten, weitgehend unmanipulierten Werten operieren. Seismische Diagramme von Versuchen, Bereiche des Unbewussten zu erfassen.

Sehen hinter dem Sehen. 

                                      Sehen am Ende der Augen. 

 

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Der niederländische Zeichner Geurt van Dijk erzählte, dass er einen amerikanischen Kollegen zu Besuch hatte, der eines morgens vor dem Haus saß, den Hund zeichnete, dabei knurrte & ein bisschen verhalten bellte. Der Hund antwortete irritiert mit einem Grummeln & ebenso verhaltenen Ansätzen zum Bellen. Der Zeichner dazu befragt: Das gehört zum Hundezeichnen, sonst wird das nichts.

Der Preis, den die Götter für ein Lied verlangen ist, dass wir werden, was wir singen.  

Sich in eine gewisse Archaik des Sehens treiben lassen. Ein unerklärlich drängendes Verlangen, ein sich zum Jucken steigerndes Kribbeln an der Peripherie bestimmter Vorlieben ... Lost in Lust. 

Und den Linien Raum geben sich selbst zu inszenieren, neues Volumen zu entdecken, Gebiete zu erschließen. Zufälle aufgreifen, zulassen, einbinden. Ein Fleck der eine Idee anbietet & schlitzohrig signalisiert, dass er ein bißchen Nachhilfe für seine Entwicklung gebrauchen könnte. Den Linien eigene Artikulationsbedürfnisse & entsprechende Fähigkeiten zugestehen. Raum für das Spiel spielerischen Findens in den unbegrenzt freien, jungfräulichen Weiten hinter den Normen. Nicht das über eingeschliffene Kanäle eingebläute Spiel zwanghaften Machenmüssens in abgesteckten Claims. Den immer während alles wollenden Willen von der Leine lassen, ihm frei geben vom Zwang zwanghaft wollen zu müssen. Der Wille muss hier nicht mehr um jeden Preis jedes Material in jede gewünschte Richtung quälen & zähnefletschend Beweise seiner Stärke produzieren. 

Was für eine Erholung für Wille, Zeichnung & Zeiten.

Im Illusionsraum der Gemälde konnten verschiedene Zustände gleichzeitig gezeigt werden; in der Zeichnung der Moderne ist der Zustand selbst lebend, offen & veränderbar.  Jeannot Simmen (undatierte Notiz)  

 

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"Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt".  Friedrich Schiller ,Über die ästhetische Erziehung des Menschen‘

 

Linie bewegt sich unweit hinter ihrem eigenen Anfang irgendwo frei im Blatt, tummelt sich kindlich unbedarft, verspielt & Punkt für Punkt, aus den dunklen Bunkern ihrer Kernseele heraus, wo alle Anfänge auf den Startschuss instinktiver Impulse warten, bewegt sich da heraus in taghelles Niemandsland. Tastet sich vor in die Weiten offen stehender Möglichkeiten, in das jungfräuliche Terrain – meist – mittelfeinen Papiers. Und dieses Papier lässt geduldig die Kapriolen der Linie zu, ist ihr Spielwiese & Spielpartner. 

Linie stiehlt sich giggernd & übermütig aufgedreht aus dem schweren Brokat überkommener Sehweisen, gradliniger Scheinsicherheiten & Kontrollhysterien heraus, ackert sich durch die zähen Versuche des Willens sie zu zwingen, weicht aus, entwindet sich, taucht weg, schlingert über jene Schwelle an der Beweise enden (frei bewegte Linien & Träume sind nicht beweispflichtig), driftet über die Barrieren des Logischen, über Hindernisse aus Kriterien des Nachweisbaren & hinüber in jene Dimension, in der auch die Wildnis ihre Logik webt. Sie umkreist & umzingelt sich selbst & andere, zerrastert in punktueller Auflösung, verdünnt & verliert sich in Grauwerten, überquert sich selbst, verfängt sich, wird von anderen Linien aufgefangen. Sie verwirbelt ungezügelt zum chaotischen Haufen Unrast. Im Focus einer Vergrößerung öffnet sie verschmitzt grinsend den Mantel & zeigt einen Kosmos aus Punkten & Zellgeweben. Sie pulsiert, sie zickzackt zur Fieberkurve, fächert auf, zerschellt, vernebelt in Verwischungen oder versteift zur strammen Geraden – je nachdem, gezwungen oder freiwillig. Und sie grinst hintergründig breit & subversiv, wenn sie der Geraden, die immer nur den kürzeren Weg nimmt, meist & gerne in der Reihe bleibt, wenn sie dieser Geraden wieder entkommen ist. Von einem Treibmittel animiert, blüht & wuchert sie unkontrolliert, verändert ihr Volumen, öffnet den Zufällen Auslaufflächen & Lebensgespinste, bebildert entsprechende Gesetzmäßigkeiten, entwickelt mit ihnen neue & gemeinsame Lebensräum. Ein Akt der Liebe auf ambulanter Frequenz & mobiler Position ...

               

„Mich erfinden. Ernst machen mit dem was ich weiß: Es gibt eine innere Stimme. Es gibt ein stummes Wissen. Es gibt keine Probleme, nur Veränderungen. Jeder Mensch weiß alles. Es gibt Wunschlinien und Wege. Bejahen“.   Wolfgang Max Faust / Dies gib es also

 

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Es gibt eine allgemein vernachlässigte wenn nicht völlig ignorierte Ebene, die für eine Zeichnung konstitutive Bedeutung hat & unmittelbar beteiligt ist. Die Ebene jener Vorgänge, die sich bei der Handzeichnung in der Zone zwischen Stift & Zeichenfläche abspielen, wo Zeichnung sich in der Aneinanderreihung mikroskopischer Ereignisse Punkt für Punkt realisiert. Eine Vergrösserung gibt eine Ahnung davon, zeigt, was sich in dieser Zwischenzone zwischen der Oberflächentextur der Zeichenfläche & Art und Härtegrad des zeichnenden Werkzeugs tut, als Druckspur & den entsprechenden Grauwerten, als fasernder Rand oder Schmierspur bei Kugelschreibern & wie weit die Papierstruktur da beteiligt ist. Eine Vergrößerung, & man kann damit heute über entsprechende (digitale) Verfahren sehr weit gehen, öffnet & demonstriert diesen Bereich, zeigt die Schleifspuren & Punkteraster der Geburtsvorgänge. Und bei zunehmendem Vergrößern zeigt sich zudem die individuelle Physiognomie & ästhetische Autonomie jedes einzelnen Punktes. Dialoge im Tabernakelbezirk, wo jedes an der Linie beteiligte Partikelchen Anfang ist & erst die Union all dieser Anfänge Linie & Zeichnung bilden. Struktureller Untergrund plus Oberflächenspektakel.