tribal lines - über Möglichkeiten digitale Zäune zu reiten / 2009

Dritter Tag eines Traumseminars an der Akademie Minerva in Groningen, die immer eine Woche dauern, manchmal länger. Und einer der Tage, die bis in die Nacht gehen. Aus dem Tagesbetrieb bleiben ein paar übrig, wollen noch weiter machen, dieses mal vier Frauen.  

Dependance der Akademie, ein weiträumiges Innenstadthaus, drei Etagen. Über Tag voller Seminarteilnehmer, gegen 9 abends leer & dunkel bis auf die oberste Etage, der große Aktsaal, & ein angrenzender, kleinerer Raum. In dem arbeiten Marjan, Ellen & Jacky, jede an einer Wand & an Blättern so groß wie sie selbst. Sie trinken Rotwein & kiffen. Jacky lässt in Endlosschleifen Pergolesis Stabat Mater & elegische armenische Gesänge laufen. 

Sommer, eine dieser langen Schönwetterperioden, warm, Türen auf, diese Musik ... 

Ich bin mit der vierten Frau, Janet, im Aktsaal allein, sitze im Sessel der Aktmodelle beim Fenster & schau der Frau zu, die am anderen Ende des Raums an drei großen quadratischen Zeichnungen auf dem Boden arbeitet. Eine große Schirmlampe über ihr leuchtet den Bereich aus, der übrige Raum liegt im Halbdunkel. 

Janet hat kürzlich vorzeitig ein Kind verloren. Seitdem sieht sie es häufig, zu häufig, in ihren Träumen. Nach vorausgegangener Bearbeitung über Notizbuchkritzeleien, Skizzen, Textversuchen etc., riet ich, den Embryo – möglicherweise in Varianten – zu zeichnen, so groß wie möglich. Die Blätter an denen sie arbeitet, haben Kantenlängen von 1,50m & mehr. Ich wollte sie aus dem introvertierten Herumsuchen heraus auf körperliche Ebenen & derart in Aussagen bringen, die nicht zu übersehen sind ... 

Pergolesi, das Schrabben der Kohle oder wischende Hände auf Papier ... Einmal reißt Marjan im Nebenraum ein Blatt fluchend von der Wand & tackert ein neues auf ... Janet hockt abwechselnd in einem ihrer Blätter, zeichnet & heult still. Hände & Arme schwarz von der Zeichenkohle. Gelegentlich fallen ihrer Tränen auf die Zeichnung. Manchmal schaut sie vom Zeichnen auf, schaut kurz zu mir rüber, als suche sie eben Halt in der Realität außerhalb ihrer Glocke. Bisschen verschmierte, abwesende, eingenässte Augen ... & irgendwann steht sie auf, steht mit diesen Augen vor mir, sagt: „Karl, kannst du mich mal eben in den Arm nehmen?“ Danach zeichnet sie weiter ... 

Eine komprimierte, dichte Atmosphäre. Das barst von eindringlicher, aufgeladener Intensität & Anwesenheit, von höchster Aufmerksamkeit, von vibrierendem Dasein. Die Frau vollzog da einen heiligen Urakt. Das war vorbewusstes, chtonisches Ritual. Da passierte deutlich Großes. Diese Zeichnungen waren Ritualplätze, alle, & hatten unübersehbare Qualität.

Ich greife hier in so verbale Höhen, weil es den Tatsachen entspricht. Es war äußerst faszinierend der Frau zuzusehen! Diese Stunden bleiben eingebrannt in meine Codes für feuernde Augenblicke & für Lebensmomente, für die sich Leben  lohnt ...

Halbes Jahr später traf ich sie wieder in der Stadt. Sie hatte nicht mehr von dem Kind geträumt & ihre Zeichnungen hatten auf einer Biennale in Maastrich einen Preis geholt. 

Der Detonationspunkt der Kreativität befand sich dort, wo ihr Zeichnen den Albtraum transformierte & überwand – verstehst du? Für die Frau lag der Wert der Zeichnungen in ihrer psychischen Gesundung, abgesehen davon, dass sie ganz sicher auch als Zeichnerin damit weitergekommen war. Die Intensität der Erfahrung erzeugte eine entsprechende Aussagedichte. Und der Preis den die Zeichnungen holten, arretierte diese Erfahrungen & stabilisierte die Frau natürlich noch ...  (Briefausschnitt /1999)

 

Basis dieses Seminars ist eine Methode, die von einer Stammesgruppe in Zentral-West-Malaysias entwickelt wurde & praktiziert wird. Träume werden hier auf einer unmittelbar gestalterischen & von jedem Laien – Erwachsenen wie Kindern – zugänglichen Ebene, selbstverantwortlich gehandhabt & als   “Geschenke“ an die Gemeinschaft in den Alltag integriert, als Lieder, Bilder, Skulpturen, verbesserte Werkzeuge, veränderte Rituale, Namen, Masken, Tänze, erweiterte Heilmethoden, konkretisierte Entscheidungen etc. Kreative Tätigkeiten fließen in profane Routinen ein & strukturieren subjektives Verhalten wie kollektives Zusammenleben. 

Das Seminar ist ein Zweig meiner tribal lines oder tribal codes, Begriffe, in denen sich die Hintergründe & Gründe meiner Arbeit bündeln. Meine Vorstellungen gehen zur bewußten Ablösung konventioneller Strukturen westlicher Prägung, hin zu einer Öffnung & Synthese mit entsprechenden Werten nomadischer oder stammeskulturell organisierter Gruppen. Diese sind ja im allgemeinen ganzheitlich ausgerichtet (wenn nicht alleinseligmachende Religionen & ,wirtschaftliche Interessen‘ zugeschlagen haben) & praktizieren eine entsprechend animistische Sicht auf die Welt. Ein Sehen & Denken in & aus Zusammenhängen, bei dem die andere Seite, die irrationale, prä-logische, nicht ausgeklammert, respektiert & integriert wird. 

Eine Position wie die der Schamanen & Hexer auf dem Zaun, die beide Seiten, Ratio & Emotion, Kalkül & unkontrollierte Drift, überblicken, in sich zusammenkommen lassen & in Ritualen inszenieren. 

Der Schamane auf dem Zaun, der Tundra-Burjate Serjei Sereptin auf Fliegenpilz, quert jenen Fluss, dessen Wasser einerseits abwärts, andererseits aufwärts fliessen & wo er am jenseitigen Ufer in den Sphären der Umkehrung Ahnen & Ahnungen trifft. Wo er diese Ahnen befragt & Ahnungen möglicherweise zum Erkennen komprimieren & inszenieren kann ... Onkel Aligator Tukwalele in den Sümpfen des Okawango-Deltas ... John Malangwi, der alte Hopi auf dem Dach einer Pueblosiedlung im Süden der USA ... die Seherin der Tupi-Quawahip am brütend heissen Oberlauf des Madeira im Amazonasbecken ... die cocome der Maya ... die om-myoshi Japans... ägyptische pa-hery-tep ... aztekische teo-pexqui...

Heute sitzen Psychologen bzw. Künstler. Künstler-Scouts, auf dem Zaun.

 

Die üblichen Sehgewohnheiten sind auf schnell zu erfassende Information, auf Oberfläche – besser Fassade, auf Kontrolle, auf Zweck- & Beweissehen aus. Sehen ist subversiv & in gleichsam homöopathischen Einheiten über lange Zeit unterlaufen, vom Sehen entwöhnt, in die Sucht nach Steuerung & in entsprechende Erblindungen getrieben worden. Und da das Sehen vor dem Denken kommt, ist die Lage wohl brisant.

Das braucht Überprüfung, Entwicklung & Einsatz in eine, der menschlichen Intelligenz gemäße Progression. Diese Forderung ist nicht neu, weiß ich, kann es aber auch nicht oft genug wiederholt werden.

 

“Eine neue Durchlässigkeit wäre es, was wir bräuchten, ein Schema mobiler Interventionen, ein nomadisierendes Denken ... ein schweifendes, unfertiges, paradoxes Denken ... Freiheit ... Vieldeutigkeit ... Mobilität ... ambulanter Ort ... die alten Modelle taugen nichts mehr ....  die Zwischenräume, die Randgebiete, die kritischen Räume und unbestimmte Gelände sind das Territorium der Nomaden ... daß es ihnen darum geht, eine neue schöpferische Fluchtlinie zu ziehen ... gegen die Festsetzung stabiler, totalitärer Institutionen und Mächte 'zugunsten eines Geflechts von immanenten Beziehungen' ... Nomadismus bedeutet neue Wege suchen, neue Fährten schlagen ... heißt, neue Durchgänge zu finden und sich neu zu verteilen, neue Sensibilitäten möglich zu machen, neue Bündnisse zu schließen, neue Verkettungen 

auszuprobieren ...” (Kunstforum International /Nr.112 Outside USA - Der Künstler als Nomade)

 

Wir stehen, um im visuellen Bereich zu bleiben, bei haushohen Graffitis, bei tausendseitigen Mangas, bei plastinierten Leichen & Kunstobjekten als gestoppte Verwesung in Formalin. Bei Copyshops mit zimmerbreiten Plottern, bei gigantischen, gedankenschnellen Informationsnetzen, Photoshopfiltern, inflationären Bilderfluten & der Tatsache, dass Fotos nicht mehr unbedingt die alte dokumentarische Warheit sagen. Wir sehen in molekulare Strukturen, in den Nanoraum, machen Bilder von Vorgängen im Hirn & fotographieren in exzellenter Auflösung den Mars & den Pferdekopfnebel im Orion, 1500 Lichtjahre entfernt (lächerlich nah im Vergleich zu Bildern vom Ende des Universums), & wir können uns im Internet unseren eigenen Planeten genüßlich von aussen ansehen ...

Und um den Stand des Sehens & Denkens in der Qantenphysik zu illustrieren, ein Zitat aus einem Onlineinterview mit Quantenphysiker Anton Zeiliger.  (brand eins online / 2007) 

 

“...Man spricht von Teilchen-Welle-Dualismus. Ein Photon kann etwa sowohl ein Teilchen sein, das sich an einem bestimmten Ort befindet, aber auch eine wellenartige Energie, die sich überall im Universum ausbreitet. Erst der Beobachter, Mensch oder Messgerät, entscheidet im Augenblick der Messung, der Wahrnehmung, über die Definition.”

 

Nun, digitale Verfahren ermöglichen es beispielsweise, die Wahrnehmung auf 

Möglichkeiten auszuweiten & ein Sehen zu realisieren, das dem tribalen Sehen bzw. einem animistischen Kosmos aus Beziehungen, Vernetzungen, nicht-rationalen, prä-logischen Dimensionen sehr nahe kommt. Und wo die angepeilte Synthese zwischen tribalem Zusammensehen & analytischer Moderne realisiert werden kann, zumal im technischen Bereich ... 

Pixeluniversen komprimieren, kooperieren, vernetzen, werden als Bildebene übereinander, ineinander gebracht. Rasterungen, Zeichnungen, Fotos, Textelemente, Röntgenfilme, Printmedienausrisse ... gehen Verbindungen mit anderen Zeichnungen, Fotos etc. ein & führen ihre Energien in eine Allianz transparenter oder halbtransparenter Geflechte & Räumlichkeiten, in überraschende, sich gleichsam selbst kommentierende Konstellationen. Und in sowohl echte wie gelenkte Zufälle. Denn beim Einsatz digitaler Filter sind deren Funktion & entsprechende Effekte in etwa sowohl voraussehbar & planbar (gelenkter Zufall), wie umgekehrt überraschend, von kryptischen Vorgängen im Dunkel digitaler Räume & Verknüpfungen bestimmt.

Fotografische Hinterlassenschaften der Touren an die Froschteiche & in die Auenlandschaft des Rheins, die sich mit Schwarzweiss-Repros von Ritualen australischer Aborigines zusammentun ... Das Foto von Elena, wie sie mit dem Kind an der Brust auf der Lasterpritsche sitzt, im Verschnitt mit riesigen Rharbarberblättern & dem Flugbild eines niederkommenden Raben ... Die Trancezeichnung mit dem Kaffeefleck, die laszive Figur auf dem warmen Gelb einer Angkorwand & der Chlorophyl-Exzess eines Dschungelfilzes unter- oder überlagert von der Abbildung zweier Dajak-Jäger ...

Ende der Einseitigkeiten die ein Ganzes mit ihrer Aussage beherrschen.  Komplexität, Zusammengang, Struktur, Ausdehnung, Transparenz, & zwischen den Ebenen Möglichkeiten für die visuellen Codes eines Dritten, für die Vieldeutigkeiten schamanischer Räume.

Computermaus & elektrische Filter als zeichnender Finger im Sand der Pixel. 

Spiele in digitalen Sinnlichkeiten & Dekodierung konventioneller Programme. Spiel in Rasternetzen & im Synapsengewitter der Hirnhemisphären & im Auftrag eines uraltes Unbewußten, das Assoziationen & die Echos von Emotionen als Impulse in die Klicks & die Lust am Spiel schickt.

Dpi-romantics & poetische Zündungen im Nullpunkt überraschenden Zusammenkommens. Partikel verwimmeln zu neuen Farbwerten, vollziehen Struktursynthesen, formulieren Hell-Dunkel-Werte, komprimieren zu Dichte, zur Dichte visueller Regenwälder, zu energischer Anwesenheit. 

Der Level von sich sebst regulierenden Systemen in elektrischen Multiversen. Und in ihrer Endaussage inszenieren sie, manchmal ablesbar, manchmal nur zu ahnen, den gesamten durchschrittenen Raum, die Erinnerung an die Prozesse ihres Entstehens. Ortsfragmente vereint zu neuen Ort-Schaften. 

Gegenständliches alliiert mit Abstraktem, Erkennbarkeiten mit clandestinen Zufällen, Tranzparenz mit Oberflächendichte ... 

Stichworte: Zusammengehen / Zusammensehen / transparente Grenzen / Funktion des Sozialen ohne Hierarchie.

Ein romantischer Kosmos (Romantik hier als das Zusammengehen aller Bewußtseinsebenen), romantische Schönheit als Code eines neuen visuellen Zusammenseins & dem bildhaften Animismus aus einer Union von Unterschieden & Eigenarten. 

 

Seit Cromagnonmaler im Uterus der Erde, Szenen & Tiere mit Ruß & rotem Ocker auf Höhlenwände bringen & bewußt Zufälle, Buckel, Vertiefungen, Abbrüche, Versintertes, Risse als Stilmittel zulassen, seitdem & sicher früher noch & zu jeder Zeit bis heute, inszeniert irgendwo irgendwer das kreative Urspiel.

Eine sich allmählich verdichtende Beobachtung, ein diffuser Impuls, ein sich zum Jucken steigerndes Kribbeln an der Peripherie bestimmter Vorlieben, oder Lust am Spiel, an grübelnder Neugier ... Ohne Absicht sein, bis auf die Absicht, etwas finden zu wollen, aber nicht einmal wissen, was man finden will. Wie beim Muscheln sammeln am Strand.

Vagabundierendes Sehen, kindliches Selbstvergessen. Und den Zufall zulassen – bei der Handzeichnung, wie beim Spiel in & mit digitalen Filtern.

Wenn dieser Zufall allgemein als Zufall bezeichnet wird, hat das auch mit einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber solchen Phänomenen zu tun, muss aber nicht heißen, dass dieser Zufall ohne Gesetzmäßigkeiten ist. Er ist nur nicht 

rational kontrollierbar.   

Wenn sich in einer künstlerischer Arbeit per Zufall irgendein Zufall anbietet, etwas, das für die herkömmliche Logik nicht zur Sache gehört, dann gehört dies dennoch dazu. Er ist mit der Situation, mit dem Prozess, also von der Sache selbst heraufgespült & derart angeboten worden; animistische Wirklichkeit. Kontrollierte Manipulation würde es starr & tot machen. Kontrolle, konventionelle Logik, Kalkül & Verstand haben hier keine Stimme, kennen hier weder Ziel noch Weg. Sie sollen hier den Mund halten, das permanent hastende Denken die Luft anhalten. Aber das Hirn soll nicht gezwungen werden, inaktiv zu sein, im Gegenteil. Es soll hier nur die Prioritätenebene wechseln, umschalten auf Verknüpfung, Synthese, dann darf es wieder mitreden, redet dann aber anders.

Die Gesetzmäßigkeiten des Zufalls lassen mir den Zufall zufallen, wenn diese Gesetzmäßigkeiten das einerseits als notwendig erachten & ich andererseits ensprechend zufallsbereit bin, wenn das zusammen kommt.

„Das Imaginative ist weder in seiner Entstehungsweise noch in seiner Wirkung ganz zu bestimmen. Ich zögere nicht, dieses Element magisch zu nennen, auch wenn das "Magische" längst aus dem aufgeklärt-materialistischen Bewusstsein gefallen ist, das in der gegenwärtigen kulturellen Arena den Ton angibt.

Eins der Gesetze des magischen Universums ist, dass nichts ohne Wille ode

Absicht geschieht, so dass die Ausrede des Zufalls dort nicht besteht. Hat nicht Flusser gesagt, dass Absicht die >unwahrscheinliche Beschleunigung des Zufalls< ist?"  Jürgen Ploog in Simulatives Schreiben / Verlag Peter Engstler

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